Die (Corona-)Gefahren für das mutigste Projekt der Liga
„Zuerst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu.“ Diese legendäre Aussage des Rasenkickers Jürgen Wegmann hat längst Kultstatus erlangt und beschreibt die aktuelle Situation der Löwen Braunschweig punktgenau. Ich kann mir gut vorstellen, dass dieses „Kobra“-Zitat Alleingesellschafter Dennis Schröder und Geschäftsführer Nils Mittmann durch den Kopf ging, als sie am Dienstag erfuhren, dass sich ihre Mannschaft erneut in Quarantäne begeben muss. Es war von Anfang an klar, dass diese Saison alle Teams vor riesige und nicht berechenbare Herausforderungen stellen würde. Bei allen Sicherheitsvorkehrungen ist ein hundertprozentiger Schutz vor Corona nicht leistbar. Entsprechend kann es sich für die Braunschweiger nur wie bei Jürgen Wegmann anfühlen, wenn wir die erste – am 10. Januar beendete – Corona-bedingte Auszeit als „kein Glück“ und die jetzige als „Pech“ einstufen. Mir tun die Löwen wirklich leid! Da sie frühestens am 7. Februar gegen Ulm in den Ligabetrieb zurückkehren können, weisen sie nach 15 Spieltagen erst elf absolvierte Begegnungen auf. Die versäumten Partien nachzuholen, stellt einerseits für die Terminplaner in Köln eine große Herausforderung dar, andererseits aber auch für die Schützlinge von Pete Strobl, denen dadurch wohl Belastungsphasen auf Euroleague-Niveau bevorstehen dürften. Aber die Löwen haben keine Mannschaft für ein Programm im Stakkato-Takt zusammengestellt. In Braunschweig hat man ein mutiges Experiment gewagt, das jetzt durch Corona an seinen Grenzen stoßen könnte, was äußerst schade wäre. Denn noch stärker als in der Vorsaison heißt die Corporate Identity „Ausbildungsstätte für junge deutsche Spieler“.
Nur drei Ausländer
Geplant war, die Saison mit vier Ausländern zu beginnen. Bislang ist es bei drei Legionären geblieben, von denen Spielmacher James Robinson (5,8 Assists, 4. in der Liga) die größte Konstante darstellt. Bryon Allen spielt wechselhaft und sorgt bisweilen mit fragwürdiger Wurfauswahl für Kopfschütteln. Martin Peterka liefert mit 4,8 Punkten und 2,9 Rebounds Zahlen ab, die in einem Team mit sechs Ausländern an der unteren Grenze lägen, für die Braunschweiger Konstellation aber definitiv zu wenig sind. Vor der Saison habe ich die Löwen aus zwei Gründen als ein Team mit großem Entwicklungspotenzial gesehen, zunächst weil die jungen deutschen Spieler sich verbessern würden, aber auch weil dem Verein mit drei freien Ausländerspots Möglichkeiten zu Nachverpflichtungen offenstehen, ohne dass man Verträge auflösen müsste. Mit bislang vier Siegen ist Braunschweig nicht weit vom Abstiegskampf entfernt, und Mannschaften wie Gießen und Göttingen sind äußerst aktiv auf dem Markt, um ihre Ausgangsposition zu verbessern.
Das deutsche Gerüst
Ein nachverpflichteter Ausländer wäre zunächst einmal keine Verstärkung, sondern ein Ersatz. Mit Kostja Mushidi (11,7 Punkte pro Spiel) steht ein deutscher Leistungsträger aufgrund einer Krankheit für unbestimmte Zeit nicht zur Verfügung. So ein Ausfall ist normalerweise nicht zu kompensieren. Die Löwen hätten aber die Möglichkeit, einen Ausländer für den 22Jährigen zu verpflichten. Das ist bislang nicht geschehen, wahrscheinlich aus finanziellen Gründen. Gerade jetzt, wo ein harter Spielplan zu erwarten ist, wäre ein zusätzlicher Akteur hilfreich. Das Kapitäns- und Forward-Duo Lukas Meisner (13,8 Punkte, 44,4 Prozent Dreier) und Karim Jallow (16,5 Punkte, 5. in der Liga) liefert zuverlässig ab und hat mit Luc van Slooten einen Back-up, der mit erst 18 Jahren beachtliche 6,2 Punkte bei 50 Prozent Dreierquote liefert. Dazu arbeitet Gavin Schilling wie ein Berserker am Brett und greift mit 7,7 die drittmeisten Fehlwürfe der Liga ab – seine 3,6 Offensiv-Rebounds sind sogar Bestwert. Dieses Quintett bildet das Herzstück des deutschen Gerüsts. Der gebürtige Braunschweiger Meisner und Schilling, der mit Pete Strobl schon in Ulm zusammenarbeitete, sind „schon“ 25 Jahre alt und Sonderfälle, weil persönliche Verbindungen eine wichtige Rolle bei ihrer Verpflichtung spielten. Jallow (23), Mushidi (22) und van Slooten (18) sind hingegen junge Talente mit internationaler Perspektive, die vorher keinen Bezug zur Löwenstadt hatten. Genau aus dieser Kategorie will man zukünftig mehr Spieler anlocken, was Nils Mittmann unterstreicht: „Wir wollen hier nicht nur Rollenspieler entwickeln, sondern die Jungs zu Leadern reifen lassen.“
In den Fußspuren von Würzburg und Leverkusen
Man muss schon ein wenig in der Mottenkiste kramen, um vergleichbare Projekte zu finden. Natürlich kommt den meisten Korbball-Enthusiasten zuerst die Würzburger Mannschaft in Dirk Nowitzkis einziger Erstligasaison in den Sinn. Neben dem späteren NBA-MVP standen 1998/1999 noch Spieler wie Robert Garrett, Demond Greene und Marvin Willoughby im Team. 2004/2005 vergaben die Bayer Giants Leverkusen 68,7 Prozent (!) ihrer Spielzeit an deutsche Akteure mit Denis Wucherer, Gordon Geib, Sven Schultze und wieder Demond Greene als wichtigsten Protagonisten. Jetzt haben die Löwen den gleichen Weg eingeschlagen. Braunschweig ist die einzige Mannschaft, bei der deutsche Akteure mehr als 60 Prozent der Minuten abgreifen. Es wäre äußerst schade, wenn dieses hochinteressante Projekt aufgrund der Pandemie in den Abstiegsstrudel geriete und dadurch an Schubkraft verlöre.
Euer